Tangerine L.A.

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Die Sundance-Überraschung des mit Hollywood-Taschengeld finanzierten „Tangerine L.A.“ wird vor allem dem Umstand zugerechnet, dass er innovativ, nämlich nur auf iPhones, gefilmt ist. Der Filmemacher Sean Baker, auch in seinen frühen Filmen gesellschaftlich marginalisierten Menschen mit großer Hollywood-Optik zur Seite stehend, hat aber aus genauer Beobachtung eine tatsächlich rührende Weihnachtsgeschichte gedreht, ohne die soziale Realität von Transgender-SexarbeiterInnen zu beschönigen. Und er ist der Empfehlung seiner DarstellerInnen gefolgt: „Sieh zu, dass der Film Spaß macht – sonst sehen wir ihn uns nicht an!“

Foto: Kool Film

Sin-Dee hat den Scheiß einfach satt

von Rajko Burchardt

Sucht man bei Google nach „turbulenten Komödien“, finden sich unter den etwa 81.000 Ergebnissen neben vielen Theaterstücken auch Einträge zu Filmen wie „Sex Tape“ oder „Rubbeldiekatz“. Die Treffer lassen vermuten, dass das Etikett an Filmen haftet, die entweder vordergründig Druck machen („Gag-Feuerwerk“) oder entfernt an Screwball-Comedys geschult sind – mehrheitlich Beziehungskomödien, die in Zeiten von Papas Kino 2.0 wieder affirmativ „Geschlechterulk“ genannt werden wollen. Streng genommen handelt es sich natürlich um eine inhaltsleere Bezeichnung: Komödien, jedenfalls die guten, sind ihrem Wesen nach turbulent, es sei denn, sie beziehen ihren Humor aus einer Lakonie, die sich gerade durch den gleichsam amüsanten Verzicht von Tempo einstellt.

In solche Suchergebnisse möchte „Tangerine L.A.“ nicht passen, obwohl der Film derart turbulent und unerwartet komödiantisch ist, dass einige Filmkritiker noble Vergleiche zogen. Sie fühlten sich an frühere Arbeiten von Woody Allen erinnert, dessen New Yorker Witz Independent-Filmemacher Sean Baker hier gegen den absurden Alltagshumor des queeren Straßenstrichs von Los Angeles eintausche. Der Vergleich mag auf die Art abzielen, mit der Baker die tristen Erlebnisse seiner Figuren überraschend leichtfüßig und reich an melancholischem Optimismus vermittelt: Er erzählt unmelodramatisch von Menschen, die vielfältig zu repräsentieren nicht allein Hollywood dem Publikum nach wie vor schuldig bleibt, und nutzt dafür einen Spielort, dessen Abbildung im Kino zu Extremen neigt.

Mit den Darstellungskonventionen einer Metropole, deren Geschichten entweder als von falschem Glanz erstrahlte Lügen verkauft oder in eine ausgestellt karge Betroffenheitsästhetik gezwängt werden (und damit nicht unbedingt näher an irgendeiner Wahrheit liegen), hat „Tangerine L.A.“ nichts zu tun. Im ästhetischen Zugriff des ausschließlich auf iPhones gedrehten Films präsentiert sich Los Angeles als orangefarben durchfluteter Alternativentwurf mit grellem Smartphone-Look. Das erinnert zwar an Instagram-Bilder, deren automatische Filter noch hässlichste Aufnahmen schick aussehen lassen möchten, hat aber zugleich einen faszinierend verunstaltenden Effekt: Bekannte Locations wie der Santa Monica Boulevard sehen hier so unwirklich aus, dass man sie in Abwandlung einer Victor-Herbert-Operette als „Mystic merry toyland “ besingen muss.

Damit kommt der Film dieser queeren Stadt so nahe wie seit „Hustler White“ (1996) von Bruce LaBruce kein anderer mehr. Sean Bakers besonderer Blickwinkel hat nichts Gimmickhaft-Verklärendes und führt auch nicht über den widerstandslosen Weg eines allzu forcierten Sozialrealismus, der Milieunähe über zudringliche Regieeinfälle herstellt. Stattdessen wirkt die durchs anamorphotische Handy-Objektiv quasi doppelt entrückte Authentizität der Stadt hier angemessen ungehalten. Sie schafft die visuellen Voraussetzungen für eine Geschichte, deren wunderbaren Figuren sich der Film gleichsam eigensinnig annähert – allen voran Sin-Dee, einer gerade aus dem Gefängnis entlassenen Trans*Sexarbeiterin.

Sin-Dee macht sich auf die Suche nach ihrem Zuhälter und Verlobten Chester, der sie mit einer Cis-Frau betrogen haben soll („a real white fish, like vagina and everything“). Sämtliche Räume des Films erobert sich diese Figur mit einer impulsiven Selbstverständlichkeit, die bis auf einen entscheidenden Moment beinahe vergessen macht, dass schwarze und genderqueere Menschen wie sie besonderer Diskriminierung ausgesetzt sind. Jeglicher Wahrscheinlichkeit enthoben ist die Figur deshalb allerdings nicht, vielmehr scheint deren ermächtigtes Auftreten eine konkrete Reaktion auf die gesellschaftliche Verunmöglichung queerer Safe Places und eine generelle Lebensfeindlichkeit ihres Umfeldes zu sein: Sin-Dee hat den ganzen Scheiß einfach satt.

Foto: Kool Film

Aus dem gemütlichen Kaffeeklatsch mit Freundin Alexandra, der das Gerücht versehentlich über die Lippen ging, entwickelt sich also eine von Sin-Dees überschäumendem Temperament angetriebene Suchbewegung. Zusätzlich angetrieben wird sie durch eine Nebenhandlung, die der Film am Schluss fulminant (und in der Tat recht Allen-typisch) mit den zeitweise aufgedröselten Erzählsträngen der beiden Hauptfiguren verknüpft – der grobe Plotaufhänger wird zum emphatischen Motor. Wo Sin-Dee aufgebracht Burrito-Läden, Wohnblocks und Autowaschanlagen abklappert, macht „Tangerine L.A.“ unterschiedliche Erfahrungswirklichkeiten sichtbar. Und das durchaus auch im kartographischen Sinne, wenn ihre Etappen, mit leichter Hand, ein sehr spezifisches Bild von Los Angeles formen.

Der Parcours, über den die einnehmend forsche Sin-Dee sich hier selbst jagt, ist dabei nicht frei von Hindernissen, doch ausgestellte dramaturgische Bau- und Stolpersteine legt ihr Sean Baker nicht in den Weg: Sin-Dee erleidet keinen Drogenabsturz und wandert auch nicht zurück ins Gefängnis. Sie muss lediglich, ganz ohne schlichte Drehbuchmanöver, einen heimlich schwulen Taxifahrer auf Distanz halten. Muss mit dem nun aufgetriebenen „white fish“ Dinah im Schlepptau pünktlich zum Konzert ihrer Freundin Alexandra erscheinen. Und muss natürlich den treudoofen, genauer gesagt: den bemitleidenswert dämlichen, Chester ausfindig machen und zur Rede stellen. Der wickelt, toll gespielt von James Ransone aus „The Wire“, am Heiligabend mutterseelenallein seine kleinen Zuhältergeschäfte in einem Donut-Shop ab.

An all diesen Figuren ist „Tangerine L.A.“ nah dran, ohne ihnen auf den Leib zu rücken. Er macht sie nicht zum comic relief (was weniger intelligenten Filmen zumindest bei Taxifahrer Razmik schwer fallen würde), sondern versteht sein Ensemble als eigensinnige Triebfedern, die von Sin-Dee, dem stürmischen Zentrum dieser so völlig anderen Weihnachtsgeschichte, zusammengehalten werden. Dazu gibt es erfrischend ungehaltene, oft programmatische Dialoge („Bitch, the estrogen has been kicking in.“), denen auch mal unerwartet rührende Gesten folgen – der Moment, als Sin-Dee ihrer sichtlich heruntergewirtschafteten Rivalin Dinah plötzlich das Gesicht zu schminken beginnt, ist einer der vielen kleinen Höhepunkte des Films. In solchen zaghaften Annäherungsversuchen spielt er den melancholischen Optimismus seines „Mystic merry toyland“ leise aus.

Klingt, zugegeben, nicht nach einer turbulenten Komödie, zumindest keiner, die man bei Google finden würde. Doch der Witz von „Tangerine L.A.“ verbirgt sich im stets etwas neben der Spur liegenden Rhythmus und seinen hintersinnig gesetzten Kontrapunkten. Er knallt uns im um die Ecke gedachten Slapstick seiner Hauptfigur entgegen, die buchstäblich alles und jeden mit sich reißt (besonders die auf nur einem Schuh umhertorkelnde Dinah). Und er entlädt sich im fast klassischen komödiantischen Schlussakt, der das tolle Ensemble auf einem wieder neu zu erobernden Raum versammelt und sogar entsetzte Schwiegermütter auf den Plan ruft. Dass man den Film nicht leichtfertig in irgendeine Genreschublade bekommt, ist vielleicht das größte denkbare Kompliment für ihn.




Tangerin L.A.
von Sean Baker
US 2015, 87 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT

Kool Film
www.tangerine-la.de

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