1:54

TrailerDVD / VoD

Neu auf DVD: Tim ist ein Chemie-Genie und ein guter Sportler. Doch seit dem frühen Tod seiner Mutter läuft er nicht mehr und lässt die Hänseleien seines brutalen Mitschülers Jeff über sich ergehen. Ein schrecklicher Vorfall, für den sich Tim die Mitschuld gibt, rüttelt ihn auf. Er fängt wieder mit dem Laufen an, vor allem um Jeff eins auszuwischen und ihm den Startplatz über die 800m bei den nationalen Wettkämpfen wegzunehmen. Für die Qualifikation muss Tim die Strecke in 1:54 Minuten laufen. Doch Jeff ist jedes Mittel Recht, um seinen Intimfeind auf Distanz zu halten, auch wenn es noch so grausam ist… Regisseur Yan England steigert in seinem vielschichtigen High-School-Drama über Cybermobbing und Homophobie die Spannung immer weiter, bis sie im überraschenden Finale schier zu bersten scheint. In der Hauptrolle des introvertierten Tim glänzt Antoine Olivier Pilon, Xavier Dolans furioser Hauptdarsteller aus „Mommy“ (2014).

Foto: Edition Salzgeber / Bertrand Calmeau

Lauf, Junge, lauf!

von Frank Brenner

Die erste Einstellung: Ein Schulhof aus der Vogelperspektive. Ein imposantes Gebäude, das Platz für etliche hundert Schüler bietet, aber auch etwas Bedrohliches hat. Es könnte beinahe ein Gefängnis sein, so isoliert vom Rest der Nachbarschaft steht es da, eingesäumt von Sportplätzen und dem Außengelände für die Pausen. Für den 16-jährigen Tim ist dieses Schulgebäude tatsächlich eine Art Gefängnis, denn der junge Mann sieht sich darin schon seit Jahren den Anfeindungen seiner Mitschüler ausgeliefert. Die Schule steht im kanadischen Québec, aber die Vorkommnisse dort sind länderübergreifend relevant.

Nach dem Establishing Shot von oben führt uns Regisseur Yan England ins Innere der Lehranstalt, in der die Schülermassen mit alltäglichen Dingen beschäftigt sind. Wir nehmen Gruppen wahr, Cliquen, die zusammen abhängen, und Einzelgänger, die für sich bleiben. Und dann sind da noch die Unruhestifter, die andere drangsalieren und mit ihrem sadistischen Gehabe ihre vermeintliche Überlegenheit zum Ausdruck bringen möchten.

Tim ist einer der Elftklässler. Er schwimmt nicht mit dem Strom. Er mag athletisch sein und selbstbewusst wirken, also nicht das typische Opfer von Schultyrannen sein. Aber er ist gut mit Francis befreundet, der viel besser in deren Beuteschema passt. Francis ist ein Außenseiter, der stets mit traurigem Blick durch die Gänge des Schulgebäudes schleicht und den Attacken der anderen nichts entgegenzusetzen hat. Gemeinsam mit seinem Freund Tim vermischt er im Park neben von Graffitis übersprühten Wänden Substanzen aus dem Chemieunterricht, um spektakuläre Explosionen herbeizuführen. In diesen Momenten sind sich die beiden Außenseiter ganz nah, Verbündete gegen den Rest der Welt.

Als Francis Tim eines Abends im Park fragt, ob dessen Vater nichts dagegen hätte, dass sich die beiden so oft hier verabreden, fällt Tims Antwort für seinen Freund ernüchternd aus. Der Vater wisse gar nicht, dass Francis auch dabei ist, und er müsse es auch nicht erfahren. Die Enttäuschung über diese Aussage ist Francis anzusehen. Als es schon dunkel geworden ist und Francis auf dem Betonboden des Parks einschläft, merkt er nicht, dass Tim ihn auf den Mund küssen möchte. Aber Tim traut sich nicht, seinem Verlangen tatsächlich nachzugeben.

Foto: Edition Salzgeber

An der Schule geht es weiter wie bisher. Die Aggressoren hacken auf Francis herum. Als sie ihn als Schwuchtel beschimpfen, geht er in die Offensive und verrät, dass er tatsächlich schwul ist. Dieses Coming-out fällt auch auf Tim zurück, da der ständig mit Francis zusammen ist. Seine Widersacher nehmen nun an, dass die beiden ein Paar sind. Tim, der in seinem sexuellen Empfinden noch unsicher ist, sagt sich von seinem besten Freund los, damit der vermeintliche Makel des Schwulseins nicht auch an ihm selbst hängen bleibt. Ein zaghafter Versuch Tims, für den Freund einzustehen kommt zu spät. Francis erträgt die Demütigungen nicht länger, es kommt zu einer Verzweiflungstat. Zuvor gesteht er dem Freund noch seine Liebe.

Tim sucht nun nach einem eigenen Weg, sich an Jeff, dem Rädelsführer der homophoben Clique, zu rächen. Er besinnt sich auf sein Talent als Läufer und fordert Jeff auf dem Sportfeld heraus. Nur einer von ihnen darf zur nationalen Meisterschaft über 800 Meter antreten. Die Qualifikationszeit dafür liegt bei einer Minute und 54 Sekunden.

Foto: Edition Salzgeber

Yan England ist in seinem kanadischen Heimatland schon seit den frühen 90er Jahren als Schauspieler aktiv. Für seinen Kurzfilm „Henry“ erhielt er im Jahr 2013 eine Oscar-Nominierung. Sein Langfilmdebüt „1:54“ packt die Zuschauer_innen von den ersten Minuten an. Englands vielschichtiger Film beginnt als Außenseiterdrama unter Schülern mit homoerotischen Untertönen. Schon in diesem ersten Teil, in dem der Regisseur die verschiedenen Stadien der Selbsterkenntnis unter Jugendlichen thematisiert, wird das Fingerspitzengefühl und Geschick des Filmemachers deutlich. Nach Francis Verzweiflungstat muss der Film einen narrativen Haken schlagen – und entwickelt sich zu einem Sportlerdrama weiter, in dem der Held seine Schuldgefühle mit körperlichen Anstrengungen kompensieren und seinem größten Widersacher einen Denkzettel verpassen möchte.

Foto: Edition Salzgeber

Tim, dem nach seinen sportlichen Erfolgen die Sympathien der anderen zufliegen, beginnt sich immer mehr zu verstellen. Er gibt vor, mit seiner Mitschülerin Jennifer liiert zu sein, um die Gerüchte um seine Homosexualität ein für alle Mal zu zerstreuen. Im letzten Drittel entfaltet England ein modernes Cybermobbing-Drama, in dem nichts überzeichnet oder konstruiert wirkt, in dem die Details bis in die letzte Konsequenz glaubwürdig und nachvollziehbar entwickelt sind. Diese Nähe zu dem Gefühlsleben der geschundenen Figuren hat schon Larry Clarks „Bully“ (2001) oder Gus Van Sants „Elephant“ (2002) ausgezeichnet, die beiden Filme, denen „1:54“ thematisch eng verwandt ist. Mit Antoine-Olivier Pilon, dem Protagonisten aus Xavier Dolans „Mommy“ (2014), hat England zudem einen Hauptdarsteller gefunden, der einen mit seinem einfühlsamen Spiel zutiefst berührt.




1:54
von Yan England
CA 2017, 106 Minuten, FSK 12,
engsliche Originalfassung mit deutschen Untertiteln,
Edition Salzgeber

 




DVD: € 16,90 (inkl. Porto & Verpackung)

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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